Montag, 3. September 2012

Die anderen um uns herum

Heute sollen einmal alljene zu Wort kommen, die bislang in diesem Blog schweigen mussten. Während wir Möchtegern-Hipster ständig von funkigen Parties aus Berlins Herzen berichten, wissenschaftliche Abhandlungen des männlichen Frontspoilers veröffentlichen oder die Größe des Ethanols beschwören, sind sie mitten unter uns und doch nie dabei. Da ich in Berlin Prenzlauer Berg praktisch Tür an Tür mit diesen Gestalten wohne (strenggenommen tut ihr das mit Sicherheit auch), möchte ich ihnen diesen Eintrag widmen. Den Zurückgelassenen, den Ausgeblendeten, meist älteren, oft einsamen, aber dem Alkohol sehr zugetanen Mitbürgern, die die Gentrifizierung noch nicht aus den aufstrebenden Vierteln vertreiben konnte und Union Berlin weiterhin eisern die Treue halten.

Die große Ehre habe ich, eine Insel dieser Wesen im Bionade-Paradies Prenzl'berg direkt unter mir zu haben: Eine "Alt"-Berliner Kneipe. Hier treffe ich sie an, stets dieselben und immer unter sich, von morgens um Zehn, wenn sie aufmacht bis zu ihrem Schließen, meistens gegen Elf. Da ich sie bei jedem Verlassen und Betreten des Hauses sehen muss, bin ich bestens im Bilde darüber, wer alles auf dieser Insel so seinen Tag verbringt und habe ihnen mittlerweile Kosenamen gegeben.
Zum Beispiel Grimmiger Gustav. Er trauert dem Mauerfall nach und hilft in der Kneipe aus. Er sieht so aus, als wolle er sich permanent Prügeln. Deshalb trägt er im Großstadtjungel auch stets seine Hose im Camouflage-Look. Da man ihm im Tarnnebel der Raucherkneipe ohnehin kaum sehen kann, ist er praktisch unsichtbar getarnt für Neukunden. Oder Willi, der Postbote. Er leidet unter Übergewicht, so wie der ebenfalls häufig anzutreffende Kiosk-Betreiber nebenan, das liegt wohl daran, dass er sich außer der Bewegung, die sein Job erfordert, meistens an der Theke aufhält. Er fühlte sich aber durch jAms letzten Eintrag sehr angesprochen und geht, dadurch motiviert, die Partnersuche jetzt etwas aktiver an.
Birgit, ein weiblicher, betagterer Stammgast, schwärmt ja schon länger für ihn. Allerdings steht selbst der Postbote Willi, nun wirklich nicht ein Mann von Anspruch und Welt, ihrer Mode eher skeptisch gegenüber. Birgit liebt Schürzen und Schlabberleggins in feinster Wurst-Optik, die sie mit offenen Küchenlatschen kombiniert. Damit ist sie übrigens auf der Insel der Seeligen nicht allein, nur tragen die Männer dort  standesgemäß Socken zu ihren Latschen und Sandalen von kik.
Im Gegensatz zu den meisten Gästen der Kneipe, die im Übrigen immer Stammgäste sind, denn Touristen merken innerhalb von Sekunden, welcher Wind in dieser Spelunke weht und nehmen Reißaus, hält sich Birgit nicht für eine Alkoholikerin. In ihrem Bierglas befindet sich überwiegend eine mit Beta-Carotin gefärbte Flüssigkeit, die wohl wie Fanta aussehen soll. Natürlich, Birgit, das ist Fanta.
Da ist weiterhin die klobürstige Besitzerin, mit ihrer praktischen DDR-Kurzhaarfrisur möchte ich sie einmal Janette nennen. Janette hat noch nie gelacht, nicht einmal dieses dreckige, verrauchte Lachen ihrer meisten Gäste. Sie hat ein hartes Leben mit all diesen Säuferseelen, deren Probleme sie sich tagtäglich anhören muss. Sie ist die einzige von allen, die es als Wirtin zu was gebracht hat. Deshalb ist sie auch mit dem Mann vom Dönerimbiss nebenan liiert.
Man könnte noch viel erzählen, von RollstuhlJoe mit seinen unpassenden Turnschuhen, die viel zu groß sind, aber sie erinnern ihn an die Zeit, bevor er sein Raucherbein amputiert bekam oder Freizeit-Erich, der zwar immer gegen Honecker war, aber dessen Brillenmode "nun wirklich nicht die schlechteste war". Ein Mikrokosmos des alten Prenzlauer Bergs, "Alt" ist bitte sehr wörtlich zu nehmen - unter 65 schaut man da dumm aus der Wäsche, ein Tummelplatz der Fußballbegeisterten, die zwar die aktuelle Tabelle kennen, aber Obama für den neuen Auswechselspieler des 1. FC Energie Cottbus halten, ein Wolke aus alten Herren, Nikotin und Ostalgie. Eine dunkle Wolke. Möge sie doch woanders regnen.

Ich wünsche mir oft, dass diese Kneipe schließt. Ich weiß, das ist nicht nett, denn diese Menschen haben weitausmehr Probleme als die Flughafengesellschaft BBI im Moment (Immerhin will die jemand) und brauchen ihr Inselchen. Doch manchmal träume ich von einem coolen Unterwäscheladen für Singleladies direkt unten in meinem Haus oder einer Bar, wo auch mal wechselnde Gäste einkehren. Wie wär's mit einem hippen Szene-Treff oder einem Klavierladen? Ich kann sie nicht mehr sehen, dieselben verhärmten Gesichter, jeden Tag, jeden Abend, jeden Morgen, außer Sonntags, den Tag müssen sie wohl hassen. Doch eine Person täte ich liebend gerne dort immer öfter antreffen als nie: Die Frau, die mir gegenüber wohnt.

Auch sie hat einen Namen mittlerweile bekommen: Frustrierte Fotzine. Frustrierte Fotzine ist immer zuhause und glotzt mir den ganzen Tag in die Wohnung. Wenn ich nicht da bin -und dank ihr bin ich das häufig- reicht ihr auch das Leben auf der Straße unten. Dann nimmt sie sich ein Kissen aufs Fensterbrett (im Winter, denn im Sommer nutzt sie dafür die Balkonballustrade) und schaut eine halbe Stunde "fern". Sie ist definitiv arbeitslos und verlässt ihre Wohnung nur zum Einkaufen, obwohl ich sie noch nie auf der Straße getroffen habe. Ob der junge Mann, der manchmal bei Fotzine ist, ihr Sohn ist, weiß ich nicht, aber ich nenne ihn Justin. Dieser Justin hat wohl auch das "Böhse Onkelz"-Emblem auf ihrem Balkon angebracht, welches bestens zu der Sattelitenschüssel daneben passt, denn ich bin mir sicher, dass sie lieber die Flippers hört. Jedenfalls ist frustrierte Fotzine alles andere als ein schöner, tagtäglicher Anblick von 7 Uhr, wenn sie die Fenster zum Lüften öffnet, bis 20 Uhr, danach hält sie sich offensichtlich in ihren Schlafgemächern in der Rückseite des Gebäudes auf, und ist niemals in der besagten Kneipe anzutreffen. Vielleicht weiß sie aber auch, dass der Alkohol dort und ihre Einsamkeit sich prima vertragen....nicht. Sie möchte mich wohl noch länger zwingen, möglichst viel Zeit abseits von meiner Behausung zu verbringen. Auf diese Weise übt Fotzine passiven Widerstand gegen mich als Gentrifizierung, die ihr offensichtlich nichts anhaben kann. Doch mittlerweile bin ich ihr dankbar dafür: Seit ich ihrer permanenten Gegenwart gewahr geworden bin, merke ich erstmal, was ich für ein tolles aufregendes Leben habe. Oh Danke, Fotzi.

1 Kommentar:

  1. Ich habe in der Nacht von Montag auf Dienstag bei "der netten Holländerin von nebenan" übernachtet und bin am nächsten Morgen gegen 11.00 Uhr so langsam wie noch nie an dem hier beschriebenen Ort vorbei geschlendert. Ich bin der Meinung, dass ich Alle bis auf RollstuhlJoe erkannt habe (Ich weiß wer das ist, er war nur nicht da). Ich konnte mir das Grinsen beim hereinschmulen nicht verkneifen und wurde aus der Höhle mit argwöhnischen Blicken bedacht. Zum Glück war ich mir die ganze Zeit sicher, die kommen nicht raus um mir die Meinung zu sagen, da hätte man ja seinen Platz aufgeben müssen ...

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