Das Berufsbild des Physikers kränkelt an entscheidender Stelle: dem Sex-Appeal. Einem Weib auf einem gesellschaftlichen Anlass zu offenbaren, man betreibe die akademische Disziplin der Physik, löst im Allgemeinen Befremden aus und sorgt zuverlässig für eine abruptes Eintreten einer Gesprächspause. Diese lässt sich selbstverständlich optimal nutzen, um sich kurz einen weiteren Drink zu mixen, eine Kippe anzuzünden, sich flink auf die Suche nach herzhaften Essensresten zu machen, zu schauen ob die Toilette immer noch belagert ist, oder auch schlicht um zu testen, wie gut die weibliche Konversationspartnerinn geübt ist, einem derartigen Gesprächstöter entgegenzutreten.
Ist sie dies nicht und tritt unangenehmes Schweigen auf, ist es an einem selbst das Gespräch wieder neu zu entfachen. Unter Umständen ist die Flamme des Dialoges auch nie richtig entbrannt, gegeben man gab seinen Hintergrund bereits bei den entscheidenden ersten Sätzen preis. In diesem Fall ist nichts mehr zu retten und man sucht am Besten einen Artgenossen mit gleichem Nerdlevel auf, um ein wenig über die Konsequenzen einer möglichen Anomalie des allgemeinen Gravitationsgesetzes für Schwerpunktsabstände der beteiligten Massekörper in einer Größenordnung klein gegenüber der Plancklänge zu streiten. Dies lässt den entstandenen Frust am Ende der kurzen Interaktion mit der andersgeschlechtlichen Person (meist niedrigerer Nerdstufe) schnell vergessen, führt aber auf lange Sicht eben nicht zum beabsichtigten Erfolg.
Konnte man es zumindest für einige Zeit verbergen, aus welchem Gewerbe man stammt und ist die Diskussion erst im späteren Verlauf ins Stocken geraten, ist die Lage besser aber immer noch heikel, denn es gilt nun erst einmal den Sand aus dem Getriebe zu putzen. Dies stellt sich allerdings meist mühsam dar und erfordert unnötig Kraft und umständliche Erläuterungen, aus denen klar wird, dass man zwar schon irgendwie Nerd aber eben kein durchgeknallter Geek ist und mit allgemeinen Hygienegrundlagen, einschließlich der Handhabung von Seife, Handtuch und Haarschampoo vertraut ist.
Auch ich habe hinsichtlich der geschilderten Problematik hinreichend Erfahrung gesammelt und über die Jahre mehr oder weniger effiziente Strategien entwickelt, die einen am Ende des Tages mehr schlecht als recht über den Berg, bzw. durch den Abend bringen. Natürlich bin ich auf Nachfrage bereit, meinen mühsam erworbenen Wissenschatz mit Nerds gleicher oder höherer Nerdstufe zu teilen. Die erfolgreiche Umsetzung ist jedoch immer noch risikobehaftet und unterliegt hohen statistischen Schwankungen. Auf der Suche nach einer universellen Methode bin ich bei meinen Studien zu dem Schluss gelangt, dass die einzige erfolgreiche Strategie mit globalem Anspruch, d.h. unabhängig von individueller Ausprägung des Nerdfaktors, der Aufbau eines zweites Standbeins ist.
Selbstredend ist Maschinenbau oder Informatik als zweites Standbein ungeeignet. Mit dem Attribut "geeignete" zu versehene Metiers sind: Tauchlehrer, Stuntman, Rockstar, Tenor (nicht Countertenor), DJ, Bankräuber, Berufsblogger (für literarische, philosophische Themen, auf keinen Fall naturwissenschaftlich), Guru, Survival-Experte, Kampfpilot, Nachrichtensprecher, CEO von Volkswagen (auf keinen Fall CEO der S-Bahn Berlin), Modedesigner (Vorsicht: wirkt eventuell schwul), Talkmaster (nicht Lenz, schwul), Diktator, Fernsehkoch (Vorsicht: auf keinen Fall Biolek), oder Skilehrer.
Ich persönlich habe mich für Letztes entschieden. Und ich beschloss, dass der Tiroler Skilehrerverband ein geeigneter Partner für mein Unternehmen wäre. Um es vorwegzunehmen: Leider haben die Tiroler Bergspasten die tiefere Absicht meiner Teilnahme an der Ausbildung durchschaut und sich prompt geweigert, mir die benötigte Lizenz auszuhändigen. Natürlich konnte ich vorher nicht ahnen, dass eine innige Naturverbundenheit, Menschenfreundlichhkeit (ungeachtet des Geschlechts, Haarfarbe oder Alters), Freude im Umgang mit Kindern, Hilfbereitschaft und Geduld neben mittelgrottigem Fahrkönnen ebenfalls gefordert waren.
In bester Absicht und guten Mutes begab ich mich also vor knapp zwei Wochen mit dem Zug von Zürich nach Zell am Ziller im Zillertal. Keine Ahnung, was man sich bei der Wahl des Ortes gedacht hat, aber die Entscheidung muss wohl von dem einzigen Tiroler Skilehrerausbildner getroffen worden sein, der Zeit seines Lebens nicht verstanden hat, dass Skifahren und übermäßiger Alkoholkonsum am Spätnachmittag eine innige Symbiose bilden, die unter dem Schlagwort Apres Ski bekannt ist. Was die besagte Beschäftigung anbetraf, hätte ich von der Stimmung am Ort her gesehen, zum Feiern und Grölen genauso gut den ausgeschiedenen Papst in seinem Nonnenkloster besuchen können. Bereits am ersten Abend drehte ich mit meinen WG Kameraden (zumindest die waren einigermaßen vernünftig) drei Runden durch den Ort nur um festzustellen, dass es neben einer einzigen offenen Bar nur noch "Tonis Stadl" gab, eine Absteige, in der die Dame an der Bar wohl die einzige Person war, die man ansprechen konnte, ohne sich krankhaft pädophil zu fühlen.
Im Laufe der Tage verbesserte sich die Situation zum Glück ein wenig. Zum einen wuchs unsere WG auf stolze zehn Personen, zum anderen entdeckten wir die "Alte Mühle", eine Tanzeinrichtung in der, übrigens dem Namen gerecht werdend, das Publikum nicht minderjährig war. Des Weiteren gesellten sich drei Anwärter aus Ischgl zu uns, denen ebenfalls nicht entgangen war, dass die Apres Ski Qualität in Zell am Ziller weit hinter Tiroler Standards zurückgeblieben war. Da die beiden Südtiroler aus der WG ("Django" und "Shred") verantwortlich für die Logistik des italienischen Rafting-Nationalteams waren und einen entsprechend geeignetes Gefährt besaßen, konnten wir unseren Aktionsradius beträchtlich erweitern und so schloss dieser nun auch die Nachbargemeinde mit ein, in der Gott sei Dank mehr los war.
Die Skilehrerausbildung bestand im Prinzip darin, zehn Tage lang Pflug zu fahren, was in erster Linie für die Skilehreranwärter von Vorteil war, die noch nicht Skifahren konnten. Die Ausbildner hielten sich durch den konsequenten und kollektiven Genuss von Snus (schwedisch: Snüs) bei Laune. Einige auch damit, Erkundigungen darüber einzuholen, wer ihnen denn den besten Deal für Gras machen könnte. Vom Ausbildungsprogramm her, ließen sich also keine Einwände finden, die allabendlichen Ausflüge ins Nachbardorf nicht noch ein wenig zu vertiefen.
Da ich Informationen erhielt, dass alsbald der bereits allgemein als Dumpfbacke bekannte "Justin" zu uns ins Haus, konkret zu mir ins Zimmer, ziehen sollte, war ich gezwungen noch schnell im Keller ein Bett aufzubauen. "Justin" hatte sich kurz vor Beginn des Lehrgangs bei einer kleinen Meinungsverschiedenheit den Arm verknickst, und war aus dem Krankenhaus getürmt, bevor man seinen Arm gipsen konnte. Der Junge war auf jeden Fall im Kopf genauso hohl, wie sein Arm geschwollen und blau, was sich auch nochmal dadurch bestätigte, dass er gleich am ersten Abend das Waschbecken mit Kotze verstopfte, obwohl die Toilette keinen halben Meter daneben stand.
Die Südtiroler machten sich mittlerweile durch ihre ausgezeichneten Kochkünste bemerkbar. Die weiblichen Mitbewohnerinnen waren ebenfalls gut drauf und pflegeleicht. Eine von ihnen fing dann auch gleich ein Verhältnis mit einem Ausbildner an, der zufällig im Partynachbardorf wohnte. Dieser erfreute sich zwar an ihrer nächtlichen Gesellschaft, musste aber mit dem Umstand leben, dass seine Fiancee ihn immer dann verließ, wenn die besoffene Meute wieder nach Hause gefahren werden wollte.
Am Tag der absolvierten Theorieprüfung (die natürlich begossen werden wollte), und zugleich ein Tag vor der praktischen Prüfung, startete dann (im Nachbardorf) das "Snowbombing", zu dem haufenweise Engländer in bester Partylaune eingeschifft wurden. Man durfte sich also in guter Gesellschaft wähnen.
Natürlich ist übermäßiger Alkoholkonsum auch nicht im entferntesten eine akzeptable Entschuldigung für motorisches Versagen am folgenden Tag. Nach der praktischen Prüfung und am Ende des Lehrgangs hatte ich aber zumindest eine Lektion gelernt, die mir bei meiner weiteren Karriere auf meinem zweiten Standbein noch von großer Wichtigkeit sein wird: "Unterschätze nie den Pflug!"